Lager: Welche verfeindeten Lager spalten die Crew?
Dem liegt jedoch die Frage zugrunde, ob Haltungen zu verschiedenen Konfliktthemen immer im „Paket“ kommen und damit soziostrukturelle Großgruppen vereinen – nach dem Motto: Wer migrationsoffen ist und gendert, engagiert sich vermutlich auch für Nachhaltigkeitsthemen und Verteilungsfragen. Und umgekehrt: Wer mit Gendern ein Problem hat, ist bestimmt auch Wohlstandschauvinist und von Ressentiments gegen Migranten*innen besessen. Es gibt viele Alltagsklischees, die Gruppen mit derartigen Meinungsbündeln beschreiben, vom „abgehobenen Großstadt Hipster“ bis zum „konservativen Landei“. Jedoch lassen sich derartige schematische Lagerbildungen in Studien kaum nachweisen, wie das Soziologen Trio Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Buch „Triggerpunkte“6 erklärt: „Die These, dass wir es mit derartigen Gesinnungsklassen zu tun hätten, die nicht nur an den Rändern auffindbar sind, sondern durch die Gesellschaft als Ganzes schneiden, decken frühere Studien bereits als überzogen auf. Einzelne Meinungen sind viel loser verknüpft als in der Zwei-Welten Theorie.“ Beispielsweise gäbe es kaum Anzeichen für tatsächliche Stadt-Land-Konflikte oder ein Gegeneinander zwischen Generationen.
In einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung wird deutlich, dass in unserer Gesellschaft nach wie vor moderate Positionen überwiegen und eine Lagerbildung, wie sie oft in Polarisierungsthesen behauptet wird, empirisch nicht belegt werden kann7. Selbstverständlich bestehen Konflikte, doch diese spiegeln sich nicht in einer klaren ideologischen Trennung klar abgegrenzter Gruppen wider.
Ungleichheiten: In welche Konfliktgalaxien sind wir unterwegs?
Spannend dabei ist, welche Ungleichheiten zu Konflikten werden. Denn längst nicht alle bestehenden Ungleichheiten werden zu Konflikten, viele werden auch einfach als ‘normal’ empfunden und nicht groß thematisiert. Ungleichheiten können in Form von Legitimation oder Kritik thematisiert werden. Und ein Konflikt entsteht demnach dann, wenn Kritik und Legitimation von Ungleichheit aufeinanderprallen.
Oben – Unten Ungleichheit: Sozioökonomische Verteilungskonflikte
Innen – Außen Ungleichheit: Migration, Territoriale Zugänge, Inklusion Integration
Wir – Sie Ungleichheiten: Identitätspolitische Anerkennungskonflikte
Oben – Unten Ungleichheit
Innen – Außen Ungleichheit
Wir – Sie Ungleichheiten
Heute – Morgen Ungleichheiten
Wer hätte das erwartet. Woher kommt dann der ganze Krawall auf dem Raumschiff, wenn sich doch eigentlich die Mehrheit der Crew gar nicht so uneins ist?
Trigger-Themen: Welche Meteoriten sorgen für Turbulenzen?
Woher kommt der hitzige, nicht enden wollende Streit? Wann und wo wird aus unserem Konsens Dissens? Eine Erklärung liegt in den sog. „Triggerpunkten“. Damit sind emotional aufgeladene einzelne Aspekte gemeint, „Detailfragen, an denen ein ansonsten vorhandener Grundkonsens zerbricht“. Es gibt also innerhalb der Ungleichheitsarenen kleine Themen, die ein derart großes Erregungspotenzial haben, dass sie mit ihrem lauten Streit über den eigentlich vorhandenen Grundkonsens hinwegtäuschen. Fazit des Soziologen Trios ist, dass die tatsächlichen Konfliktlinien unserer Gesellschaft nicht an Grundfragen verlaufen, sondern eher entlang Detailfragen – diese werden allerdings umso lauter und emotionaler verhandelt6. Mitunter so laut und emotional, dass wir durch den nicht enden wollenden Streit den Eindruck bekommen, alles würde auseinanderbrechen.
Hier kommen die sog. „Polarisierungsunternehmer“6 ins Spiel. Damit werden Akteure beschrieben, die mit einer spaltenden Absicht Triggerthemen in (eigentlich konsensfähigen) Debatten groß machen. Damit fördern sie bewusst durch polarisierende Narrative das Denken in Gegensätzen – mit dem Ziel aus dem provozierten Aufruhr politisches Kapital zu schlagen. Vielleicht sind also weniger die komplexen Themen das Problem unserer Demokratie, sondern viel mehr die Art und Weise, wie wir über sie reden?
Debattenkultur: Ein Plädoyer für die Konsenssuche an Bord
Die Suche nach Konsens innerhalb der Crew zu komplexen Fragen mag anstrengender sein, als sich simplen, schuldzuweisenden Spaltungsnarrativen hinzugeben. Dennoch ist sie der deutlich vielversprechendere Kurs durch die chaotischen Galaxien unserer Zeit. Warum also nicht den leise vorhandenen Grundkonsens als Startrampe für konstruktive Debatten nutzen, statt nur auf Trennendes zu schauen – echte Dialoge beginnen dort, wo wir uns auf das Gemeinsame besinnen und die schwierigen Themen mit kühlem Kopf und warmen Herzen angehen.
- Leseempfehlung
Einige spannende Impulse zum Thema Debattenkultur gibt es hier: Debattenkultur
- Boulding, K. E. (1966). The economics of the coming spaceship earth. In H. Jarrett (Ed.), Environmental quality in a growing economy (pp. 3–14). Baltimore, MD: Johns Hopkins University Press.
- Fuller, R. B. (1969). Operating manual for spaceship earth. New York, NY: Simon and Schuster.
- Boehnke, K., Dragolov, G., Arant, R., & Unzicker, K. (2024). Gesellschaftlicher Zusammenhalt 2023: Studie und Ergebnisse. Gütersloh, Deutschland: Bertelsmann Stiftung. Abgerufen von https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Gesellschaftlicher_Zusammenhalt/Gesellschaftlicher_Zusammenhalt_2023/2024_Studie_Gesellschaftlicher-Zusammenhalt-2023.pdf
- Reuschenbach, J., & Frenzel, K. (2024). Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen. Berlin, Deutschland: Suhrkamp Verlag.
- Wurthmann, L. C. (o. D.). Werte und Wertewandel. Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen am 1. Dezember 2024, von https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202212/werte-und-wertewandel/
- Mau, S., Lux, T., & Westheuser, L. (2023). Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaf: Warum Gendersternchen und Lastenfahrräder so viele Menschen triggern. Berlin, Deutschland: Suhrkamp Verlag.
- Roose, J. (2021). Politische Polarisierung: Gesellschaftliche Trennlinien und ihre Auswirkungen auf Demokratie und Zusammenhalt in Deutschland. Berlin, Deutschland: Konrad-Adenauer-Stiftung. Abgerufen von https://www.kas.de/documents/252038/11055681/Studie+Politische+Polarisierung.pdf/a36c964d-1d6a-66d1-288b-b22629110fd7