Erfahrungslernen in Organisationen – warum lohnt es sich neue Formate durchzuführen?

Erfahrungslernen in Organisationen – warum lohnt es sich neue Formate durchzuführen?

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Erfahrungslernen ist die nachhaltigste Lernform, die es gibt. Nachhaltig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass mit Erfahrungslernen entstandene Erinnerungen besonders gut in Zusammenhängen abgerufen und in neues Denken oder Handeln integriert werden können. Wie können Organisationen sich dies zunutze machen, wenn es um innovatives Vorankommen in Themen und in der Organisationsstruktur geht?

Erfahrungslernen ist ein Stichwort, dass seit ca. 2006 durch die universitäre Forschung an organisationalem Lernen und auch in der Personalentwicklung wieder Relevanz gewann als auch von den Organisation in Form der erlebnispädagogischen Teamentwicklung umgesetzt wurde.

Den vielen Dimensionen des Erfahrungslernen begegnete ich das erste Mal im Studium der Erziehungswissenschaft in unterschiedlichsten Bereichen und sie begleiteten mich danach stetig in meinem beruflichen Leben. Zunächst in der Psychologievorlesung, wo gelehrt wurde, dass Emotionen bei der Bildung von Erinnerungen ein großer Faktor sind. Je stärker die Emotion, desto stärker und leichter abrufbar die Erinnerung (Trauma ausgenommen). Auch Sinneseindrücke unterstützen die Erinnerungsbildung – je mehr Sinne beteiligt sind desto intensiver die Speicherung und schneller ihr Abruf möglich. (Huber & Krause, 2018)

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„Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.“ So eindrücklich hat auch Konfuzius Erfahrungslernen beschrieben. Daran lässt sich anschließen, dass Lernen durch Vorbilder beim Erfahrungslernen ein sehr positiver Faktor ist.

Vorbildlernen nutzen wir das erste Mal als Babys indem wir unsere Bezugspersonen nachahmen. Es wird oft beobachtet, dass die jüngeren Geschwister in der Entwicklung schneller sind, da sie ein altersnahes Vorbild haben, dem sie durch Abschauen und anschließendes imitieren nacheifern können. Der Lernwille der Kleinen ist für mich immer wieder eine Quelle des Staunens, da besonders Babys und Kleinkinder sich meist nicht von ihrem Ziel ablenken lassen etwas zu lernen und auszuprobieren, wenn sie es sich einmal in den Kopf gesetzt haben. Sie haben eine unglaubliche Kapazität, neugierig zu sein, Dinge auszuprobieren, zu scheitern, frustriert zu sein, sich über noch so kleine Erfolge zu freuen und weiter zu probieren, bis es funktioniert. Diese Fähigkeiten des unermüdlichen Erfahrungen-Suchens empfinde ich als eine der großen Antriebsfedern für Innovation und Fortschritt.

Im weiteren Verlauf des Lebens kommt das organisierte oder auch institutionelle Lernen hinzu. Kinder gehen in den Kindergarten, dann zur Schule und werden dort sowohl mit dem Anspruch konfrontiert, Wissen aufzunehmen (sie müssen, da ein klarer, geprüfter Leistungsanspruch besteht), als auch der Chance auf Erfahrungslernen, z.B. in Sequenzen, in denen sie ausprobieren können, wie Chemie, Werkunterricht oder Sport.

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Später kommt das Erfahrungslernen in Gruppen- und Organisationsprozessen und deren Wirkung auf Erfahrungslernen hinzu. Wie bilden sich Gruppen und wie interagieren sie? Wie arbeiten Teams zusammen? Wie wirkt sich Fehlerkultur und Organisationsstrukturen auf Erfahrungslernen aus?

Wichtige Begriffe beim Erfahrungslernen sind das Formelle und Informelle Lernen (Frost, 2018) als zwei Kategorien des großen Begriffs „Lernen“ . Formelles Lernen passiert in geordneten Strukturen und einem Plan folgend, z.B. in der Schule, in Fortbildungen, Schulungen, Universität, Ausbildung und wird meist zur Wissensvermittlung genutzt. Informelles Lernen passiert im Alltag, sei es der beste Weg einen schmutzigen Grill zu säubern oder im Berufsalltag, wenn ich in für mich neuen Situationen die passende Lösung für ein Problem finden muss. Dies kann z.B. über abschauen, eigene Recherche, Ausprobieren oder informell Kollegen um Rat fragen passieren. Erfahrungslernen gehört meist dem informellen Lernen an und kann auf den Punkt gebracht als „Zusammenspiel von operativem Anpassungslernen, strategischem Erschließungslernen und normativem Identitätslernen […]“ (Müller, 2010, p. 12) bezeichnet werden.

Die große Frage der Organisationen und der Wissenschaft ist, wie Erfahrungslernen, also meist Informelles Lernen, institutionalisiert werden kann. Institutionalisieren heißt, das die Organisation Maßnahmen mit einem bestimmten Ziel aufsetzt und die Ergebnisse im besten Fall valide evaluiert werden können. Es gibt viele Ansätze und Methoden für diese Maßnahmen, die auch zum Konzept des Erfahrungslernen passen. Folgendes Beispiel kennt jeder: die klassische Ausbildung, in der zunächst in der Berufsschule beispielhaft, später im Betrieb und im Berufsalltag relevante Tätigkeiten am Objekt trainiert werden. Auch Mentoring und kollegiale Beratung sind wichtige Elemente im beruflichen, gesteuerten Erfahrungslernen, die unter anderem Vorbildlernen als Wurzel haben.

Die Herausforderung, die uns beim Erfahrungslernen begegnet, ist der Faktor Mensch. Die hier zugrunde gelegte Definition von Erfahrungswissen kommt von Böhle et al. (2004). Erfahrungswissen sei eine spezifische Form des Wissens, die im praktischen Handeln erworben werden kann und personen- und situationsgebunden ist. Beim Erfahrungslernen gilt, man lernt immer, wenn man Erfahrungen macht – nur das „was“ ist nicht unbedingt von außen steuerbar. D.h. Erfahrungslernen kann nicht mit dem klassischen Konzept von „Erfolg“ gleichgesetzt werden, da ein:e Person auch scheitern kann und daraus lernt oder in einer anderen Situation keine langfristige Speicherung des Erlernten stattfindet. Beim Erfahrungslernen hängt, wie Böhle feststellte, demnach sehr viel vom Engagement und der Motivation der Lernenden ab, als auch von den Umständen, in denen sie lernen. Ein Beispiel: Einer der großen Vertreter für gesteuertes Erfahrungslernen ist die oben genannte Erlebnispädagogik. Sie macht es sich zunutze, dass aus den gemachten Erfahrungen (z.B. Team Trainings in Kletterparks oder das berühmte Manager Survival Camp) auf der Metaebene Verbindungen geschaffen werden. Nach den Übungen wird das „Erfahrene“ auf Situationen im Arbeitsalltag transferiert und so kann eine emotionale Erinnerungsspeicherung begünstigt werden. Gerade die Fähigkeiten von Teilnehmenden und Anleitenden, die gemachten Erfahrungen durch die Reflexionsphasen mit dem Arbeitsalltag in Verbindung zu setzen und mögliche Szenarien für Problemlösung zu erarbeiten, welche dann angewendet werden können, sind entscheidend für den Erfolg eines solchen Seminars. Erfolg hängt sowohl an dieser Fähigkeit, ebenso wie der persönlichen Präferenz für oder gegen eine solche Art des Lernens.

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Das Gleiche gilt auch in Organisationen z.B. für institutionalisiertes Mentoring und kollegiale Beratung. Wenn die Beteiligten eine fruchtbare Ebene des Austauschs finden, kann hier sehr viel gelernt werden. Ist das Matching nicht gut (persönlich oder auch fachlich), kann die Maßnahme ineffektiv bleiben oder sogar finanziellen Schaden für die Organisation bedeuten, da die Arbeitszeit für andere Tätigkeiten wegfällt (Rademacher & Weber, 2017). Das Problem für die Organisation besteht darin, dass mit Blick auf die Organisationsziele effektiv gelernt werden soll, es aber nicht immer klar ist, was die Mitglieder brauchen und wollen – und natürlich auch, wie Kosten und Nutzen gemessen und im Rahmen gehalten werden können. Da Erfahrungslernen keine exakt berechenbare Disziplin ist wie Mathe (1 +1 kann hier 4 sein oder auch 0,5) kann eine Organisation ihre Erfolge zum Erfahrungslernen eher über sogenannte „weiche Faktoren“ messen. Wie flexibel reagieren Mitglieder der Organisation auf Probleme? Wie schnell arbeiten sich neue Mitglieder ein? Wie groß ist die Veränderungsbereitschaft und -Innovationsbegeisterung? Wie hoch ist die Mitgliederzufriedenheit?

Doch wie kann eine Organisation Erfahrungslernen unterstützen? Erfahrungslernen in und für Organisationen braucht mehrere Komponenten:

  1. Zunächst die Erkenntnis, dass Erfahrungslernen existiert, sehr wichtig. Es ist komplexes zu beeinflussen und dennoch findet es zu jedem Zeitpunkt auf die ein oder andere Weise in der Organisation. Außerdem kann erfolgreiches Erfahrungslernen meist nicht verordnet oder gut kontrolliert werden, sondern eher begünstigt.
  2. Denn es braucht den Willen und das Interesse der einzelnen Mitglieder. Für sie muss die Notwendigkeit oder auch das Interesse da sein, Neues auszuprobieren, Lösungsorientiert zu Arbeiten oder sich Wissen anzueignen und anzuwenden. Studien ergaben, dass viele Menschen sich auch in ihrer Freizeit mit Themen beschäftigen, die mit ihrer Arbeit zusammenhängen.
  3. Am wichtigsten ist es, Zeit zu haben, sich Wissen anzueignen oder Dinge ausprobieren zu können, um eine neue Aufgabe meistern zu können. Mitglieder, die von einem Meeting zum Nächsten hetzen, haben keine Zeit sich einem Thema zu widmen oder sich Verbesserungen auszudenken, denn sie kommen ihren normalen Aufgaben oft nicht hinterher. Dies klingt zunächst natürlich, doch zusätzlich wird von Mitgliedern oft erwartet, dass sie sich neues Wissen und Fähigkeiten schnell und auch fehlerlos aneignen und umsetzten oder das Wissen für einen bestimmten Job schon bei Einstellung mitbringen.
  4. Damit sind wir direkt bei den nächsten Sichtworten Fehlerkultur und Talentförderung. Förderung hilft, Potentiale zu entwickeln und ermutigt neue Wege zu gehen. Unterstützung im Prozess zu haben und zu wissen, dass Fehler normal sind, sind sehr hilfreich in der Entwicklung. Besonders Erfolg und Niederlage sind emotional besetzt und begünstigen die Speicherung von erfolgreichen Strategien oder auch von Wissen, was man das nächste Mal anders machen würde – diese Erfahrungen können auch weitergegeben werden.
  5. Organisationskultur verbindet all diese Stichworte miteinander. Wird Erfahrungslernen wertgeschätzt? Werden Zeiten und Räume gegeben für Erfahrungslernen? Ist die Organisation offen für neue Impulse und auch ungewöhnliche Wege, die Mitglieder mit dem Ziel einschlagen, die Organisation voran zu bringen? Ein berühmtes Beispiel für diese explizite Förderung ist Google, die ihren Mitarbeitern ein festes Zeitkontingent für eigene Projekte innerhalb der Arbeitszeit zuspricht.

Wenn diese Komponenten im Blick der Organisation stehen, bleibt die Frage, was sie konkret für die Förderung des Erfahrungslernens tun kann. Hier einige Gedanken dazu:

Stellen Sie sich vor, dass in einer Abteilung ein neues Projekt aufgezogen wird. Es gibt Projektzeitpläne, die eingehalten werden sollen, aber es taucht ein Problem auf, mit dem nicht gerechnet wurde und das Zeit braucht, um es zu lösen. Hinsichtlich Erfahrungslernen kann hier klar angesprochen werden, wer das Problem hat, was es beinhaltet, wer Lust (und Zeit) hat es anzugehen und was die Personen dafür brauchen. Die Projektmanagenden können mit Zeit (und Budget) aushelfen, aber auch mit Beratung und Entscheidungen im Prozess der Lösung, z.B. wann netzwerkinterne oder externe Unterstützung sinnvoll sein kann. Wissen sollte als eine zu teilende Ressource betrachtet werden, die Erfahrungslernen beschleunigen kann. Die Projektmanagenden müssen auch entscheiden, wann die Erfahrung für die Organisation wichtig ist, oder wann der Prozess zu lange dauert und/oder zu ressourcenintensiv ist.

Weitere Beispiele, die wir schon kennen, sind die genannten Zeiten von Google für eigene Projekte, in der Umsetzung kann ich es aus Sicht der Organisation gut verstehen, wenn diese sich am Arbeitsalltag oder auch am Bedarf der Organisation orientieren sollen – der Kochkurs für einen Informatiker bedarf einer sehr guten Argumentation! Auch die Möglichkeit von Mitgliedern einer Organisation, Verbesserungsvorschläge einzureichen oder auch einzuführen. Dies fördert und wertschätzt Erfahrungslernen und dessen Explizieren zum Wohl der Organisation. Ebenfalls im Text schon aufgegriffen wurden Mentoring, Kollegiale Beratung. Auch im demografischen Wandel helfen Formate des Wissenstransfers, um Wissen und Erfahrungen im Unternehmen zu halten. Die Gewährung von Lernzeit für Mitglieder, wenn Wissen oder Erfahrungen für Aufgaben noch nicht (ausreichend) vorhanden sind. Hierbei gilt – diese Lernzeit ist sehr individuell, d.h. lässt sich nicht vorhersagen. Die Vorgesetzten müssen sich darüber klar sein, wieviel Zeit sie in die Lernzeit investieren möchten. Außerdem unterstützt eine Organisationskultur Erfahrungslernen und Innovationswillen, die sich als Netzwerk versteht, das sich gegenseitig unterstützt, Wissen gern teilt und dafür auch die eigene Zeit zur Verfügung stellt. Erfahrungslernen kann demnach von Maßnahmen durch die Organisation gefördert (institutionalisiert) werden.

Daher bietet es sich in bestimmten Situationen an, z.B. wenn Themen sich außerhalb der Expertise der Organisationsmitglieder befinden und/oder neues Erfahrungswissen in diesem Bereich aufgebaut werden soll, Externe hinzuzuziehen. Potentiell kann es auch für eine offenere Lernkultur sorgen, wenn die anleitende Person von außerhalb des eigenen Organisations- und Hierarchiekontextes kommt oder es schlicht einfacher und preiswerter ist, ein einmaliges Konzept für einen bestimmten Zweck umzusetzen.

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Hier könnte sich die Methode Learning Journey anbieten. In einem Unternehmen soll in einem Bereich neues Wissen aufgebaut werden, um die eigene Innovationskraft zu stärken. Über Recherche und Seminare lassen sich viele Informationen sammeln, aber den Schwung, den Innovation braucht, im Sinne von Lust und Freude (ggf. auch Leidensdruck) um Veränderung anzuschieben lässt sich mit erfolgreichen Beispielen und auch echten Erfahrungen von anderen Organisationen plastisch erlebbarer machen. Eine Learning Journey beinhaltet gezielt ausgesuchte Stationen, die den Teilnehmenden Erfahrungslernen am Beispiel ermöglichen und über diese Hilfestellung können sie neue Ideen, Motivation, Handlungsansätze und Innovationswege entwickeln – passend zum eigenen Unternehmen.

Mein Resümee: Erfahrungslernen ist für mich die effektivste Lernform, die es gibt. Eine Institutionalisierung erfolgt meiner Meinung nicht direkt, sondern über Angebote und Programme, für die sich Organisationsmitglieder entscheiden können. Wichtig ist, dass vor allem in der informellen Form des Erfahrungslernens der Erfolg nicht direkt auf eine Maßnahme zurückgeführt oder gemessen werden kann, sondern sich eher in Mitarbeiterzufriedenheit, erreichten Zielen und der Flexibilität der Organisation ausdrückt. Innovation und Veränderung brauchen Raum, Zeit und auch eine im Rahmen liegende Möglichkeit zum Scheitern. Erfahrungslernen, in all seinen Facetten, ist einer der Wege, welcher meiner Meinung nach häufig als Wurzel von Innovation vergessen wird und damit auch weniger anerkannt ist oder gefördert wird. Eine Reaktivierung des Begriffs Erfahrungslernen wäre eine große Bereicherung für Unternehmen, für die Lernen und Innovation in der Organisation ein überlebenswichtiger Faktor ist.  

Referenzen/Quellen

Frost, J. (2018). Wissensmanagement: Definition. Retrieved Revision von Wissensmanagement vom February 14, 2018, from Gabler Wirtschaftslexikon: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/wissensmanagement-47468/version-270732.

Huber, M., & Krause, S. (Eds.) (2018). Bildung und Emotion. Wiesbaden: Springer VS.

Müller, B. (2010). Organisationspädagogik als Erfahrungslernen von Kindern. In M. Göhlich (Ed.), Organisation und Pädagogik. Organisation und Erfahrung (pp. 251–263). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Rademacher, U., & Weber, U. (Eds.) (2017). Mentoring im Talent Management: Win-win-Programme für Mitarbeiter und Unternehmen. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Verena Bischoff
Pädagogisch wertvoll und mit Unternehmergeist bringt sie die Kompetenz mit, Wissen zu vermitteln, Akteure ins Gespräch zu bringen und dabei in immer neuen Perspektiven zu denken und denken zu lassen. Sei es bei der Planung und Gestaltung von Workshops oder Veranstaltungen, der Konzeption von Kreativmaßnahmen oder der Betreuung unserer Kunden.
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